Wenn ich an meiner persönlichen Entwicklung arbeite, erhalte ich sehr selten sofortige Ergebnisse. Zuerst bemerke ich meist nur eine kleine Veränderung. Aber gerade diese kleine Veränderung erinnert mich daran, dass da etwas in Gang gekommen ist und sich mein Wachstum vollständig entfalten wird, wenn ich Geduld aufbringe. Nur das spielt eine Rolle. Mit welcher Geschwindigkeit ich wachse, ist zweitrangig.
Deshalb warte ich geduldig all die kleinen Stufen des Prozesses hindurch in Ruhe ab, bleibe meinem Ziel dabei aber treu und halte an meinen Prioritäten fest. Ich unterscheide ganz klar zwischen den einzelnen Entwicklungsstufen und dem angestrebten Endresultat und lasse mich von meiner Intuition und meiner Weisheit führen, sodass ich die Früchte zum richtigen Zeitpunkt ernten und vor allem auch genießen kann. Bei all dem ist es äußerst wichtig, dass ich beharrlich bei der Sache bleibe, bis ich mein Ziel genau so erreicht habe, wie ich es mir wünsche.
Es gibt eine Geschichte, die das sehr schön verdeutlicht:
Die Apfelbauern
Es war einmal ein Dorf, dessen Bewohner noch nie einen Apfelbaum gesehen oder einen Apfel gegessen hatten. Eines Tages erschien ein Fremder in ihrem Dorf und schenkte ihnen ihre ersten Äpfel. Sie probierten die Früchte und waren durch den fremdartigen, aber wundervollen und köstlichen Geschmack von Ehrfurcht ergriffen und beflügelt. „Wie können wir an so etwas kommen?“ fragten sie voll Verlangen und Begeisterung. „Was können wir tun, um diese Frucht zu bekommen?“ Der Fremde entgegnete: „Ob ihr es glaubt oder nicht, mit diesen winzig kleinen Kernen könnt ihr diese Frucht anbauen.“
Der Fremde zeigte ihnen winzige Kerne, die sich von den Früchten, die sie gerade gegessen hatten, gänzlich unterschieden, und forderte die Dorfbewohner auf, sie einzupflanzen. Sieben aufgeregte Möchtegern-Apfelbauern traten vor, nahmen die Kerne und pflanzten sie ein. Sie gaben sich große Mühe, alle Ratschläge, die ihnen der Fremde über das Pflanzen gegeben hatte, zu befolgen, weil jeder von ihnen wirklich diese köstlichen roten Äpfel ernten wollte. Alle träumten von dem Tag, an dem sie die Äpfel genießen würden.
Die Tage vergingen, und nichts passierte. Ein Möchtegern-Apfelbauer fühlte Entmutigung in sich aufsteigen. Es war bereits eine Woche verstrichen, und noch immer waren keine Äpfel zu sehen. Doch eines Tages schob sich ein winziger grüner Sämling durch die Erde empor. Der Bauer war wütend. „Dieser Sämling hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Apfelbaum“, schimpfte er. Er dachte an die harte Arbeit, die er in die Pflege des Feldes investiert hatte, und zertrat die Pflanze. Dann wandte er sich verärgert, entmutigt und ernüchtert ab.
Es vergingen weitere Wochen, und die Bäume der anderen Bauern trieben Zweige und wurden schnell größer. Aber ein Bauer wurde der Routine, jeden Tag früh aufzustehen, um zu gießen und Unkraut zu jäten, allmählich überdrüssig – jeden Tag war so viel Arbeit zu erledigen. Nach einer Weile war er von anderen Tätigkeiten so in Anspruch genommen, dass er das Gießen und Jäten vergaß. Als er sich eines Tages schließlich an seinen Baum erinnerte und nach ihm sah, musste er feststellen, dass dieser eingegangen war, weil ihm Wasser und die nötige Pflege gefehlt hatten. Zuerst war er untröstlich, aber bald wurde er wieder von allen anderen Tätigkeiten in Anspruch genommen, die ihn so beschäftigt gehalten hatten.
Nach einem Jahr blühten die Bäume. Überall an den Zweigen wuchsen Blüten, und die Bäume boten wirklich einen schönen Anblick. Als ein Bauer die schönen Blüten sah, hielt er sie für die Früchte. Er biss in eine hinein und spuckte sie aus. Es schmeckte fürchterlich! Das war doch nicht die köstliche Frucht, die der Fremde ins Dorf gebracht hatte. Er konnte es nicht fassen, dass er so lange gearbeitet hatte, nur um festzustellen, dass er die falsche Pflanze angebaut hatte. Keinen Apfelbaum, sondern einen Blütenbaum hatte er gepflanzt. Er fühlte sich betrogen, erschöpft und unversöhnlich. Nachdem er alle Blüten abgerissen hatte, trat er gegen den Baum und ging für immer fort.
Die Jahre vergingen, und drei Bauern waren standhaft geblieben. Sie hatten allen Schwierigkeiten getrotzt, und jetzt trugen ihre Bäume Früchte. Hoch oben an den Zweigen konnten sie die schönen roten Äpfel sehen, so wie sie es sich erträumt hatten. Aber das Problem war, dass sie nicht an sie herankamen.
Ein Bauer griff nach einem Stock in der Nähe und beschloss, seine Äpfel vom Baum herunterzuschlagen. Er schlug nach den Zweigen, so dass alle Äpfel vom Baum herabfielen. Aber als er sie später auflas, musste er feststellen, dass sie Druckstellen aufwiesen und beschädigt waren. Und als er in sie hineinbiss, konnte er ihre Süße vor Erde und grobem Sand kaum schmecken. Er fühlte sich enttäuscht und betrogen angesichts dieser unerfreulichen Früchte.
Ein anderer Bauer sah zu seinen roten Äpfeln hinauf und begann sich all der harten Arbeit, die er in sie investiert hatte, zu erfreuen. Er gratulierte sich zu allen Opfern, die er auf sich genommen hatte – dem Schweiß und der Plackerei. Er beschloss, sich mit offenem Mund unter den Baum zu legen und darauf zu warten, dass diese süßen Äpfel in seinen Mund fallen würden. Er wartete und wartete und wartete … und schließlich fiel ein großer dunkelroter Apfel in seinen Mund. Schnell biss er hinein, aber zu seiner Überraschung war er innen weich und faul, und als er ihn näher betrachtete, kroch ein langer Wurm hervor. Er bedauerte es, seine Zeit vergeudet zu haben, und fühlte sich betrogen, dass er trotz seiner ganzen Mühe nichts als faule Äpfel vorweisen konnte.
Aber der Gedanke an die Äpfel, die fast in seiner Reichweite waren, trieb ihn an. Er versuchte es wieder und immer wieder. Und dann! Als er sich auf dem höchsten Ast ausstreckte, sich noch etwas länger machte und dabei jeden Muskel in seinem Körper anspannte, konnte er schließlich gerade noch die Schale der Frucht fühlen. Aber konnte er noch weiter reichen? Eine Sekunde später lag der Apfel in seiner Hand.
Ich weiß: Zu einem rundum gelungenen Leben gehört auch die Geduld mit mir selbst und anderen. Trotzdem ertappe ich mich manchmal – wenn einmal etwas nicht so läuft – dabei, dass ich ein Stoßgebet in den Himmel schicke: „Herr, bitte gib mir Geduld – ABER SCHNELL!!!“ Dann erinnere ich mich an diese kleine Geschichte und werde sofort ruhiger und gelassener.
Dietrich Bonhoeffer sagte zum Thema Geduld: „Jedes Werden in der Natur, im Menschen, in der Liebe muss abwarten, geduldig sein, bis seine Zeit zu Blühen kommt.“ In diesem Sinne wünsche ich Dir, dass Du heute einmal alles ein wenig langsamer angehen kannst und beständig einen kleinen Schritt nach dem anderen gehst.
lebe gut – lerne leicht – liebe alles
Dein Jürgen